
“Das Scheitern Europas ist ein realistisches Szenario.” Diese Aussage wird inzwischen laut ausgesprochen, sogar von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Tatsächlich ist die EU in ihrer Verfasstheit bedroht und das nicht erst, seit 52 Prozent der Briten für ein Ausscheiden aus der Gemeinschaft gestimmt haben.
Drei Entwicklungen bieten in jüngerer Zeit Anlass zur Sorge.
Erstens haben sich inzwischen beinahe in allen EU-Mitgliedsstaaten nationalorientierte, europakritische oder sogar europafeindliche Parteien etabliert, die den Rückbau oder Austritt aus der EU fordern. Nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Polen, Frankreich und Dänemark feiern sie immer größere Erfolge.
Zweitens wird der Ton untereinander rauer: “Verbalentgleisungen” und Beschuldigungen durch Medien und Politiker nehmen zu. Beispielsweise hat eine griechische Zeitung die deutsche Kanzlerin in Naziuniform porträtiert; die Polen und Türken bestellen den deutschen Botschafter ein, weil sie sich angegriffen fühlen.
Drittens führt die Flüchtlingskrise uns vor, auf welch wackligem Fundament die EU gebaut wurde. Wenn selbst gefeierte Errungenschaften wie die Reisefreiheit eingeschränkt werden, dann liegt das Gefühl nahe: Es könnte schnell gehen mit dem Abbau oder gar der Auflösung der EU.
Eine Union der Nationalstaatsregierungen
Die zur Vereinigung Europas gegründeten EU-Institutionen können diesen Tendenzen wenig entgegensetzen. Die europäische Integration, die in den vergangenen 50 Jahren vornehmlich von politischen Eliten vorangetrieben wurde, ohne Einbezug des Volkes, scheint das Gegenteil des Gewollten hervorzubringen. Die EU hat Europa nicht demokratischer und bürgernäher gemacht, sie wurde vielmehr von Nationalstaaten für deren jeweils eigenen Interessen instrumentalisiert. Statt einem Europa der Bürger, der Regionen und der Vielfalt ist eine EU der Nationalstaatsregierungen entstanden. Das zeigt sich auch an den vielen innerstaatlichen Konflikten (Baskenland, Katalonien, Schottland, Nordirland): Die EU könnte eine Lösung anbieten, versäumt dies aber. Sie könnte Regionen unter ihrem Dach unabhängig von Nationalstaaten vereinen. Doch vor der Abstimmung in Schottland drohte gar der damalige Kommissionspräsident Barroso, in der EU sei für ein unabhängiges Schottland kein Platz.
Genauso nationalstaatsgetrieben und bürgerfern wie die EU von den politischen Eliten geformt wurde, so droht sie nun von denselben Eliten wieder nationalstaatsgetrieben desintegriert zu werden.
Beim Entwurf der EU wurde versucht, das bekannte National- und Zentralstaatsprinzip auf eine höhere Ebene zu kopieren. Daran könnte das ganze Konstrukt nun scheitern. Statt 28 verschiedene Regelungen etwa zum Umgang mit Datenschutz oder Bankenaufsicht zu erhalten, strebt sie in vielen Bereichen eine europaweite Vereinheitlichung an. Ein Gesetz für 500 Millionen Bürger, eine Verordnung für 28 verschiedene Nationen.
Dies geschieht aus guten Gründen, denn die heutigen regulativen Aufgaben verlaufen nicht mehr entlang historischer Nationalstaatsgrenzen. Aber ebenso wenig verlaufen sie entlang der Außengrenzen der EU. Europaweite, an einen Super-Nationalstaat erinnernde uniforme Lösungen machen aus einem Europa der Vielfalt ein Europa der Einfalt. Unsere geschichtlich gewachsene Vielseitigkeit und Unterschiedlichkeit mit 24 verschiedenen Amtssprachen und noch mehr verschiedenen Kulturen scheint für Brüssel und die europäische Einigung eher eine Last als Kern der Identität zu sein.
Politische Instanzen ganz neu denken
Es braucht politische Lösungen, die Vielfalt und Dezentralität auf der einen Seite und Kooperation und nationenübergreifendes Handeln auf der anderen Seite vereinen.
Wir schlagen dafür neue politische Einheiten und gesetzliche Instanzen vor, wir nennen sie Jurisdiktionen, deren Zusammensetzung von den zu lösenden Aufgaben abhängt. Sie sind also nicht regional beschränkt und handeln weder entlang der bekannten nationalen Grenzen noch entlang der EU-Außengrenzen. Es sind an der Basis gegründete Verbünde von Individuen, Kommunen oder Regionen, die sich in einer speziellen Funktion (z. B. der Regelung von Schulbildung oder Verkehrsinfrastruktur) zusammenschließen und gemeinsam Richtlinien schaffen.
Diese neuen aufgabenbezogenen Jurisdiktionen überschneiden sich und sind unterschiedlich groß, weil sich auch die meisten zu lösenden Probleme nicht auf ein bestimmtes Territorium reduzieren lassen. Sie ermöglichen eine effektive Mitsprache der Bürger durch repräsentative wie auch direktdemokratische Entscheidungssysteme. Die einzelnen Themengebiete und Jurisdiktionen können ganz unterschiedlich ausgestaltet sein, etwa nach welchem Prinzip entschieden wird oder wie sie Steuern einnehmen. Die neuen Einheiten müssen ihre Aufgaben möglichst selbstständig und eigenverantwortlich angehen können, wozu sie über entsprechende Ausgaben- und Steuerkompetenzen verfügen müssen.
Eltern suchen sich das Schulsystem aus
Eine spezifische Form dieser dynamischen und selbstständigen politischen Einheiten heißen FOCJ (Functional, Overlapping, Competing Jurisdictions): Beispielsweise könnten sich Bürger und Gemeinden entlang eines großen Flusses zu einer Rechtsgemeinschaft zusammenschließen, die sich um die Regulierung aller flussspezifischen Dinge kümmert. Diese Institution könnte mit anderen Fluss-Rechtsgemeinschaften zusammen die Europäische Flussrechtsgemeinschaft bilden.
In bestimmten Fragen, wie dem Schulsystem, können auch mehrere Einheiten, die sich um dasselbe Thema kümmern, parallel auf einem Territorium existieren: beispielsweise Einheiten, die die Schulen nach Schweizer Vorbild regeln, andere Einheiten nach deutschem, eine nach schwedischem und eine weitere nach ganz neuen Standards. Eltern können sich aussuchen, in welcher Einheit sie Mitglied werden und Steuern zahlen möchten. Um Kindern andere Schulsysteme zu ermöglichen, müsste man nicht mehr wie heute umziehen, sondern nur die Jurisdiktion wechseln. Das ist übrigens in Andorra und anderen kleinen Staaten heute schon möglich.
Europa könnte so bürgernäher werden – es könnte kulturelle und geschichtlich entstandene Diversität da erhalten, wo Bürger sie wünschen. So kann eine Vielfalt innovativer Integrationsformen neu entstehen, von unten nach oben. Vielfalt und Europäisierung gehen Hand in Hand, jenseits von der einheitlich normierten EU-Politik oder national begrenzten Einzelgängen.
Mitgestaltung fördert Interesse
Dieser neue Ansatz zur europäischen Integration kann aus einigen Gründen skeptisch gesehen werden. Es könnte vermutet werden, die Vielfalt politischer Einheiten, die sich außerdem noch überschneiden, sei zu kompliziert. Wir leben jedoch in einer Zeit, in der nahezu jede Person einfach und schnell alle erforderlichen Informationen digital abrufen kann. Kritisieren könnte man auch, dass Bürger sich vor allem mit den gegenwärtigen Nationalstaaten identifizieren. Dagegen spricht der Befund, dass Bürger sich gerade mit Einheiten identifizieren, die sie auswählen und mitgestalten können.
Die multiplen dynamischen Einheiten lassen sich schrittweise einführen. Es gibt bereits jetzt mannigfaltige Vorstufen davon, wie etwa den Schengenraum, der nicht die ganze EU umfasst, aber auch Länder außerhalb der EU einbezieht. Auf einer anderen Ebene ist das Projekt European Campusangesiedelt, bei dem sich fünf Universitäten am Oberrhein (Karlsruhe, Straßburg, Mulhouse, Freiburg im Breisgau und Basel) zu einer Art wissenschaftlichen Freizone (zone franche) mit dem Ziel zusammenschließen wollen, hinderliche nationale administrative Unterschiede zu überwinden. Oder die Zusammenarbeit von Kantonen und Bundesländern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz sowie Liechtenstein in der Bodenseekonferenz, die sich um gemeinsamen Umweltschutz, Tourismusförderung und andere grenzüberschreitende Anliegen bemüht. Es gibt noch weitere Zusammenarbeitsforen über die Grenzen verschiedenster europäischer Staaten hinweg. Meist scheitern solche übernationalen Kooperationen, so ergaben unsere vorläufigen Umfragen, an den nationalen Regierungen, die zentral vorgeben wollen, was die Regionen entscheiden dürfen.
Wenn die Europäische Union die zentrifugalen Tendenzen ernst nimmt, die wir derzeit in vielen Nationalstaaten erleben, hilft weder ein Rückzug auf die Nationen noch weitere Zentralisierung. Vielmehr sollte die Integration der direkt betroffenen Akteure – dezentral, aufgabenbezogen und von den Ländergrenzen unabhängig – gestärkt werden.
Um die Integration Europas grundsätzlich zu beraten, wäre ein Europäischer Konvent sinnvoll. Wir brauchen eine Debatte über die Zukunft Europas. Aber dies sollte keine Debatte der politischen Eliten bleiben, sondern ein Diskurs, der die Bevölkerung einbezieht und in dem frische Ideen diskutiert werden. So könnte Europa ein neues Narrativ finden, eine von allen geteilte Vision für die Gemeinschaft.
Artikel auf ZEIT ONLINE: http://www.zeit.de/politik/2016-06/eu-nationalismus-europaeische-integration-buergernaehe